Für alle Fälle Phytolacca?

An Hebammen wird immer wieder die Frage herangetragen, ob es zum Abstillen oder zur Reduzierung der Milchmenge nicht auch homöopathische Mittel gebe, die sanfte und nebenwirkungsfreie Hilfe bieten. In den meisten Fällen wird den Frauen dann zur Einnahme von Phytolacca in einer niedrigen D-Potenz (D2 oder D4) geraten. Diese Empfehlung ist jedoch nicht unproblematisch.

Bei Phytolacca decandra handelt es sich um die Kermesbeere, welche ursprünglich in Nordamerika heimisch ist und dort als Heilmittel vor allem bei Rheuma Verwendung fand. Da die Pflanze giftig ist, führte die Anwendung nicht selten zu heftigen Nebenwirkungen und Vergiftungserscheinungen. Am häufigsten kommt es dabei zu Erbrechen, schmerzhaften Magenbeschwerden, Durchfall und Krämpfen. Beim Umgang mit getrockneten und pulverisierten Bestandteilen der Pflanze kann es zu Reizungen der Augen, der Nase und des Halses kommen sowie zum Auftreten von Kopfschmerzen.

Als Ausgangssubstanz für die Herstellung des homöopathischen Arzneimittels findet die Tinktur der im Herbst gesammelten Wurzel Verwendung. Diese ist neben den Beeren der giftigste Teil der Pflanze, da sie den höchsten Anteil an Triterpensaponinen enthält.

Den Bezug von Phytolacca zur Milchbildung hatten bereits die Melker im letzten Jahrhundert in Nordamerika bemerkt und sie machten häufig erfolgreichen Gebrauch von der Pflanze wenn es Probleme bei der Milchsekretion der Kühe gab oder wenn Verdickungen und Knoten in den Eutern auftraten.

Wichtige Hinweise zur Wirkung von Phytolacca auf die Milchbildung und Milchsekretion bei Frauen verdanken wir Dr. Erwin Schlüren, der in den 70er Jahren eine systematische Untersuchung zu diesem Thema durchgeführt hat. Er verwendete dabei tiefe D-Potenzen (D1 bis D4) und konnte deren milchreduzierenden Effekt deutlich belegen.

Wahrscheinlich geht darauf die in der homöopathischen Literatur häufig anzutreffende Aussage zurück, dass Phytolacca  in Abhängigkeit von der verabreichten Potenz Einfluss auf die verschiedenen Prozesse der Brust nähme, also in tiefen Potenzen die Milchbildung hemmt während sie in hohen Potenzen die Milchmenge steigert und den Milchfluss verbessert. Vom homöopathischen Standpunkt aus stellt dies aus mehreren Gründen eine unzulässig verkürzte Sicht der Dinge dar.

Phytolacca zum Abstillen

Zunächst ist es hilfreich sich klar zu machen, dass man mit einer rein indikationsbezogenen Verordnung von Phytolacca in Tiefpotenz (in unserem Fall häufig D2-D4) zur Reduzierung der Milchmenge oder zum Abstillen zwar eine phytotherapeutische Behandlung mit einem potenzierten Arzneimittel, jedoch keine Homöopathie betreibt.

Eine Vorraussetzung für das Treffen einer homöopathischen Verordnung ist das Auffinden der krankhaften Symptome eines individuellen Beschwerdebildes um dann das Arzneimittel zu bestimmen, welches in seiner Symptomenreihe die größte Ähnlichkeit zu diesen krankhaften Symptomen aufweist (griech.: hómoion = ähnlich, páthos = Krankheit). Die einsetzende und fortdauernde Milchbildung bei einer Frau nach der Geburt eines Kindes ist jedoch kein Krankheitsgeschehen, sondern ein völlig gesunder Vorgang, der primär keine krankhaften Symptome zeigt und damit auch nicht im oben beschriebenen Sinne homöopathisch behandelbar ist. Setzen wir also rein indikationsbezogen Phytolacca in Tiefpotenz als Abstillmittel ein, geht es ja nicht um die Überführung eines krankhaften Zustandes in einen gesunden, sondern es findet eigentlich die Unterdrückung eines an sich völlig gesunden und physiologischen Vorganges statt.

Bei dieser Anwendung von Phytolacca in Tiefpotenzen, in welchen die Arzneiwirkstoffe noch in beachtlichem Maße in materieller Form enthalten sind, kann man davon ausgehen, dass der phytotherapeutische Wirkmechanismus deutlich im Vordergrund steht, der in diesem Fall die Unterdrückung der Milchbildung bewirkt, völlig unabhängig vom individuellen Gesamtbild. Das Verfahren unterscheidet sich damit im Wesentlichen nicht von der Anwendung bewährter Tees (wie zum Beispiel Salbei- oder Pfefferminztee) für diese Indikation und kann daher nicht homöopathisch genannt werden, nur weil die verwendete Arznei in potenzierter Form vorliegt. Dabei soll weder in Abrede gestellt werden, dass das Abstillen in manchen Fällen eine notwendige Maßnahme ist, noch soll die oft gute Wirksamkeit der Phytolacca-Gaben  in solchen Fällen angezweifelt werden.

Man sollte bei dieser Vorgehensweise jedoch immer daran denken, dass es sich bei Phytolacca in der Ursubstanz um eine Pflanze mit einem gewissen giftigem Potential handelt. Daher ist nicht auszuschließen, dass die in einer Tiefpotenz noch vorhandenen Arzneistoffe bei sehr hoher Dosierung und langer Anwendung des Mittels ausreichend sein können um unerwünschte Nebenwirkungen hervorzurufen. Dies ist um so bedenklicher, wenn die Einnahme von Phytolacca lediglich der Milchreduzierung dienen soll, das Kind also weiter gestillt wird und dabei die Arzneistoffe über die Milch ebenso zugeführt bekommt.(Kolleginnen berichten in diesem Fall immer wieder vom Auftreten eines grünen Stuhles beim Kind). Wir wissen letztendlich nicht, welche Auswirkung  eine Akkumulation dieser Arzneistoffe im Körper von Mutter und Kind über einen längeren Zeitraum hat.

Wenn man Phytolacca auch weiterhin in oben beschriebener Weise, also rein indikationsbezogen, einsetzten möchte, ist es daher ratsam, das Arzneimittel zum einen nicht unkontrolliert über einen längeren Zeitraum in zu hohen Dosierungen einnehmen zu lassen, und zum anderen am besten nicht in tieferer Potenz als D4 zu verabreichen. Die aufmerksame Beobachtung von Mutter und Kind während der Einnahmezeit auf etwaige Nebenwirkungen versteht sich von selbst.

Phytolacca zur Milchreduzierung

Ganz anders stellt sich die Sache dar, wenn das Ziel der Behandlung nicht das Abstillen, sondern die Reduzierung der Milchmenge ist. Bei einer über längere Zeit anhaltenden, deutlich überschießenden Milchbildung, die mit den üblichen Maßnahmen nicht zu beeinflussen ist und immer wieder Schmerzen oder einen Milchstau verursacht, handelt es sich ja in der Tat um einen unphysiologischen, krankhaften Vorgang. Dies macht uns eine homöopathische Mittelfindung nach dem Ähnlichkeitsprinzip möglich. Dazu ist es natürlich notwendig, nicht nur das Symptom der vermehrten Milchbildung, sondern auch alle anderen Symptome ins Auge zu fassen, welche dann zu erheben sind.

Es gibt eine Reihe von Mitteln, die sich in diesem Fall gut bewährt haben, wie zum Beispiel Calcium carbonicum, Pulsatilla, Bryonia, Phosphor und andere. Es kann aber auch vorkommen, dass sich bei der Anamnese ein echtes Phytolacca-Bild ergibt, das sich folgendermaßen darstellen kann: Vielleicht klagt die Frau ja zusätzlich über einen Schmerz, der sich  beim Stillen von der Brustwarze über den ganzen Körper ausbreitet, und in der ansonsten weichen Brust sind darüber hinaus mehrere Knoten tastbar. Sie berichtet möglicherweise auch über die Schwellung einiger Lymphknoten, fühlt sich erschöpft und am ganzen Körper wie zerschlagen, die Glieder schmerzen, der Nacken fühlt sich steif an... All dies kann schon deutliche Hinweise auf Phytolacca als hier im homöopathischen Sinne angezeigtes Mittel geben.

In solch einem Fall können wir dann getrost damit rechnen, dass Phytolacca auch in einer Potenz C30 (zunächst als Einmalgabe!) eine übermäßige Milchbildung nach unten regulieren und, entgegen der landläufigen Meinung, nicht etwa noch weiter anregen wird. Ich habe das in der Anwendung schon wiederholt bestätigt gefunden.

Wir haben das Mittel in diesem Fall ja entsprechend der vorhandenen individuellen Symptome und nicht  aufgrund der Indikation gewählt. Daher spielt es hier keine Rolle, ob sich die individuelle Störung in einem „zu viel“ oder „zu wenig“ ausdrückt. Wenn wir davon ausgehen, dass sich mit der Höherpotenzierung eines Arzneimittels dessen Wirkspektrum immer weiter öffnet und damit weit über die einseitige phytotherapeutische Anwendung hinaus weist, dürfen wir erwarten, dass bei einer homöopathischen Mittelwahl nach Symptomenähnlichkeit der krankhafte Zustand in der ihm angemessenen Weise in Richtung Gesundheit reguliert wird. Wir haben also bei dieser Vorgehensweise nicht, wie im eingangs beschriebenen Fall, eine Unterdrückung bewirkt, sondern eine entgleiste Funktion in die ihr angemessene Form zurückgeführt. Zweifellos die elegantere Methode.

Außerdem befinden wir uns mit der Potenz C30 in einem Bereich, in welchem keine phyto-toxischen Reaktionen, wie oben bei den Tiefpotenzen beschrieben, auftreten können, da kein Molekül der Ausgangssubstanz mehr vorhanden ist. Gleichwohl kann natürlich auch hier eine zu häufige und zu große Gabe des Arzneimittels Mutter und Kind in eine Arzneimittelprüfung führen, also eine Kunstkrankheit hervorrufen mit all ihren unangenehmen Folgen.

Phytolacca und Quecksilber (Mercurius)

Es fällt auf wie sorglos gerade mit Phytolacca in diesem Punkt verfahren und in welchen Mengen und Potenzen manchmal damit hantiert wird in der Annahme, dass es sich dabei um ein harmloses, pflanzliches und damit nicht tief wirkendes Mittel handle, was so jedoch nicht zutrifft. Betrachtet man das Arzneimittelbild von Phytolacca genauer, fällt eine große Nähe zum Arzneimittelbild von Mercurius (Quecksilber) auf.

Beide Arzneien haben einen starken Bezug zu den Drüsen, besonders zur weiblichen Brust. Weitere gemeinsame Symptome sind Lymphknotenschwellungen, vor allem im Halsbereich, Nackensteifigkeit, ein stark vermehrter zäher Speichelfluss, eine Neigung zu Geschwüren und Abszessbildung, eitrigen Prozessen und Tonsillitis, zu schmerzhaften und destruktiven Prozessen der Knochen, des Periosts und der Gelenke. Auch in den Modalitäten gibt es große Ähnlichkeiten: Beide Mittel haben Verschlechterung nachts in der Bettwärme (vor allem Knochenschmerzen) und große Empfindlichkeit auf kaltes, feuchtes Wetter.

In der Tat handelt es sich bei Phytolacca um ein Antidot zu Mercurius. So fand es früher seine Anwendung bei Syphiliskranken, die entweder an den schwer wiegenden Nebenwirkungen der damals üblichen Quecksilbertherapie oder auch an Folgeerscheinungen der Erkrankung selbst litten, eben weil die von Phytolacca hervorgebrachten Symptome einer Mercuriusvergiftung so ähnlich sind.  Von Kent wird Phytolacca als „pflanzliches Mercurius“ bezeichnet. Boger beschreibt Phytolacca als „Arzneimittel von langer und tiefer Wirkung“.

Ich habe mir daher Gedanken darüber gemacht, ob bei Frauen, die Phytolacca-Symptome zeigen und dieses Mittel wiederholt brauchen, unter Umständen an eine erhöhte Quecksilberbelastung gedacht werden muss. Dies ist bisher nur eine Hypothese und der Beobachtungszeitraum viel zu kurz um Aussagen treffen zu können. Jedenfalls könnte es aufschlussreich sein nach einer erfolgreichen Phytolacca –Gabe auf entsprechende Hinweise in der Anamnese einmal zu achten. Ich bin gespannt ob sich auf längere Sicht Zusammenhänge finden lassen.

Nicht nur zur Regulierung der Milchmenge

Zusammenfassend kann man sagen, dass es sich bei Phytolacca um ein wichtiges, tief greifen­des und lang wirkendes Arzneimittel handelt. Es hat sich nicht nur bei der Regulierung der Milchmenge, sondern auch bei vielen anderen Störungen der Brust und der Laktation vortrefflich bewährt und ist aus dem Fundus einer homöopathisch arbeitenden Hebamme nicht wegzudenken. Ich möchte jedoch für einen reflektierten und umsichtigen Umgang mit diesem wie auch mit allen anderen homöopathischen Arzneimitteln plädieren, welcher sich eher an den bewährten Regeln der Homöopathie als an vagen Mutmaßungen orientiert.


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Helga Häusler ist als Hebamme in der Hebammenpraxis Sonnenberg und am Zentrum für klassische Homöopathie Sindelfingen tätig. Sie ist Dozentin an der Samuel-Hahnemann-Lehrakademie in Heidelberg und Mitglied des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für klassische Homöopathie (DGKH).

Kontakt: Bismarckstraße 64, 70197 Stuttgart, mail@hhaeusler.de


Literatur

AHZ 1973, Bd. 218, S. 202

Boger CM: Synoptic Key. Charakteristik und Hauptwirkungen homöopathischer Arzneimittel. Similimum-Verlag, Ruppichteroth, 2002

Guernsey HN: Homöopathie in Gynäkologie und Geburtshilfe. Similimum-Verlag, Ruppichteroth, 1995

Kent JT: Kents Arzneimittelbilder. Vorlesungen zur homöopathischen Materia medica. 9. Auflage, Haug, Heidelberg, 1997

Metzger J: Gesichtete homöopathische Arzneimittellehre. 2 Bände, Haug, Heidelberg, 1999

Phatak SR: Homöopathische Arzneimittellehre. Burgdorf, Göttingen, 1999

Schlüren E: Homöopathie in Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Haug, Heidelberg, 1980

  

Veröffentlicht im Hebammenforum – Magazin des Bundes Deutscher Hebammen, August 2005  Seite 587ff

 © Helga Häusler - www.hhaeusler.de


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